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Mittwoch, 12. Februar 2014

Die Vögel und ihr Baum

Es ist ein Baum. Ein alter Baum. Er ist schon ewig da. Seit Jahrzehnten trotzt er den Gezeiten. Steht da bei Wind und Wetter an seiner immer gleichen Stelle. Unzählige Menschen laufen am Baum vorbei. Manche bleiben einen Moment lang stehen, betrachten ihn. Manche bleiben und beginnen ihn zu lieben. Doch mit der Zeit ziehen sie von dannen. Jeder von ihnen. Dann sind sie weg. Doch der Baum steht weiter da, wo er immer steht.
Vor ein paar Jahren trug der Baum eine prächtige Krone. Sie war eine der größten, schönsten und dichtesten Kronen, die man je gesehen hat. Es waren die besten Jahre des Baumes. Unzählige kleine Vögel kamen tagtäglich angeflattert und ließen sich auf ihm nieder. Sie kamen wieder und zwitscherten ihre Lieder. Sie vertrieben andere Vögel, manchmal sogar weitaus größere, die dem Baum schaden wollten. Sie saßen in der Krone des Baumes und besangen ihn und beschützten ihn und taten was in ihrer Macht stand, um dem Baum so nah wie möglich zu sein.
Doch mit der Zeit begann der Baum die Folgen des Älterwerdens zu spüren. Langsam brachen vereinzelt Äste ab, die Krone wurde lichter. Den Vögelchen machte dies nichts aus. Sie kamen unverdrossen zum Baum geflogen und wussten, dass die Krone ihre alte Pracht schon noch zurück bekäme. Von Zeit zu Zeit wuchsen tatsächlich ein paar gebrochene Äste nach. Ein paar Sprösslinge keimten und die Vögel warteten hoffnungsvoll ab. Sie hofften von allen Baumbewohnern am meisten darauf, dass die kleinen, gebrechlichen Sprösslinge einmal zu starken und großen Ästen heranwachsen würden.

Doch die Zeit verstrich und viele der Sprösslinge wurden entfernt. Sie wollten einfach nicht rechtzeitig zum großen Ast werden und man befürchtete, sie würden nur eine Last für den schwächelnden Baum darstellen. Dieser verlor zusehends an Glanz. Der Wind machte ihm nun mehr und mehr zu schaffen. Dann, nach zwei anstrengenden Jahren, passierte etwas Schreckliches.
Der größte aller Äste fiel vom Baum. Er hielt dem starken Wind einfach nicht mehr stand. Dort, wo dieser unnahbar wirkende Ast jahrelang Kraft und Stärke ausstrahlte, war plötzlich nichts mehr.  Fassungslos sahen die Vögel hinab zum Boden. Es war ihr Lieblingsast, der da gerade krachend hinabgefallen ist.
Während der Großteil der Vögel trauerte, freuten sich einige von ihnen. Wütend vom Gekrächze des alten Holzes trampelten sie auf dem Ast herum und versuchten ihn vom Baum zu brechen. Da die wenigen Vögelchen aber nicht stark genug waren, half ein Parkangestellter. Er war noch nicht lange im Park angestellt. Er wusste zwar, dass der Ast für den Baum eine ganz besondere Bedeutung hat, fast schon eine Art Wahrzeichen war, entschloss sich aber dazu, ihn zu entfernen. Mit einer großen Axt kam er daher und schlug den alten, liebgewonnenen Ast vom Baume.

Vollkommene Stille herschte.

Wochen nachdem der alte, für zu schwach befundene Ast entfernt wurde, wuchs, wie aus dem Nichts, ein kleines Ästchen an eben der Stelle, wo zuvor noch der alte Lieblingsast der zahlreichen Vögel hing. An der Stelle, wo Jahrelang das beste Stück am ganzen Baum für Sicherheit sorgte, ist nun ein anderer. Die Vögel wussten sofort, dass sie vorsichtig mit dem neuen Ast umgehen müssen. Das wussten alle. Und dass sie ihn stärken müssen, denn der Sturm war noch lange nicht vorbei.
Nun ist fast ein Jahr vergangen. Dem Baum geht es immer noch nicht besser. Und das, obwohl man doch die Wurzel allen Übels entfernt hat. Es scheint also, als wäre es nicht der große, alte Ast gewesen, der dem Baum die Kraft nahm. Es müssen die Menschen sein, die kurz vorbeikamen, eine Weile blieben und dann wieder das weite suchten. Die dem Baum mal hier, mal da ein wenig Rinde entfernten. Ganz unabsichtlich. Doch der Baum spürte das. Er blutete. Und er konnte seine Wunden nicht aus eigener Kraft lecken. Das funktionierte einfach nicht. Zwischenzeitlich haben Parkmitarbeiter versucht, dem Baum eine neue Hülle zu verpassen. Sie entwickelten eine fixe Idee, wie man ihn attraktiver machen könnte, sodass die Menschen ihn vielleicht wieder mehr schätzen würden, ihn wieder attraktiv fänden. Sie ummantelten ihn mit allerlei Zeug, sodass die offenen Wunden nicht mehr zu sehen waren. Doch das ließ sie nicht verschwinden. Ganz im Gegenteil. Unter der schicken neuen Hülle blutete der Baum fast zur Gänze aus. Und der große Lieblingsast, der bekam das als Erster zu spüren.
Und die Menschen? Die wollten trotz neuer Hülle einfach nicht mehr zum Baum. Seine Krone spendete mittlerweile kaum noch Schatten und aus dem satten Blattgrün wurde ein fades Herbstkleid. 
Nur die Vögelchen, die kommen immer noch zum Baum. Mittlerweile singen zwar nur noch wenige, aber die dafür aus vollster Überzeugung. Die anderen Vögel meckern immer mehr, statt zu zwitschern. Sie wollen wieder eine schöne Krone und prächtige Äste und das alles am besten schon gestern. Einige haben sich andere Bäume gesucht, mit einer satten Krone und hoffen, dort ihr Glück zu finden. 
Genau wie die Menschen. Ein paar Meter neben dem alten, einst starken Baum, steht ein Jüngerer. Er hat eine prächtige Krone, die ihm von Leuten zurechtgemacht wird, die gar nichts mit dem Baum zu tun haben. Nicht einmal mit dem Park. Doch das stört die Menschen nicht. Sie laufen in Massen zum Baum mit der künstlichen Krone und genießen den Schatten, den sie spendet. Richtig lieb haben sie den Baum nicht, aber er ist eben ein Mittel zum Zweck.
Der alte Baum steht derweil unbeirrt von all den Schwierigkeiten da, wo er immer steht. Er sieht zwar nicht mehr so schön aus, doch die meisten Vögelchen lieben ihn immer noch. Sie hoffen inständig, dass seine Krone wieder wächst. Dass sie wieder prächtig und mächtig wird, auch, wenn es danach momentan nicht aussieht. Währenddessen schwankt der Baum im starken Wind hin und her. Er verliert immer mehr Äste, immer mehr Farbe. Er droht zu einem Baum zu werden wie jeder andere auch. Ein graues Bäumchen.

Er schrumpft, geht ein. Er ist kaum noch größer als die kleinsten Bäume im Ressort. Es knackt und knirscht hier und da und der Baum droht zu kippen. Die Vögelchen halten sich verzweifelt an den letzten Ästen fest. Äste, die schon lange am Baum sind. Einer der Äste hat schon die wärmsten Sommer mit dem Baum erlebt, hat die kältesten Wintertage überstanden. Auch er droht nun langsam zu brechen.
Die Vögelchen haben nicht mehr viel zu feiern auf ihrem Baum. Doch davon hängt ihre Liebe zu ihm nicht ab. Ihnen ist die schöne Krone egal. Notfalls würden sie sogar mit ihrem Lieblingsbaum umkippen, wenn er sich nicht mehr in der Erde halten kann. Und sie würden versuchen ihn wieder hochzuziehen und schlagen deshalb schon jetzt so kräftig mit ihren Flügeln wie sie nur können. 

Denn dem Baum muss jetzt geholfen werden. Er scheint zu schwach um aus eigener Kraft in den festen Stand zu kommen. Die Vögelchen sind nun gefordert. Sollte der Baum kippen, werden all seine Äste brechen. Die Menschen werden davonrennen, um nicht erschlagen zu werden. Nur die Flattermänner und Flatterfrauen, die sind sicher. Die könnten abspringen, so sie denn wollten. Doch das würde ihnen nicht ähnlich sehen. Das wären nicht sie. Denn für sie kann es nur einen Baum geben.
Einen einzigen Baum.
Und sonst keinen.


1 Kommentar:

  1. Schöne Geschichte und in großen teilen so wahr. Ich frage mich nur wo der Vorgänger von dem Parkanhestellten in deiner Geschichte ist - oder war der einer der beiden großen Äste? Ist ja kaum vorstellbar, dass sich ein großer und kräftiger Ast plötzlich entscheidet zu einem in der Nähe stehenden Baum zu wechseln nur weil der ihm mehr Blätter verspricht.

    Trotzdem singen noch zu wenige Vögel im Baum und ein paar kommen auch nur wenn die Sonne schön scheint und krächzen die die jeden Tag da flattern und singen auch noch an und sobald nur eine kleine Wolke zu sehen ist gehts zurück in die Käfige in den Häuser wo sie dann durch die Scheibe schauen und glauben das was sie sehen sei die reale Welt.

    gwg und zwitscher zwitscher

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